Prof. Dr. Dr. Lothar Wieler

Leiter des Lehrstuhls, Professor für Digital Global Public Health, Hasso-Plattner-Institut, Potsdam

 

Wie zufrieden sind Sie mit der Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens in dieser Legislaturperiode? Holt Deutschland im europäischen/globalen Wettbewerb auf?

Die Entwicklung ist insgesamt positiv, denn es wurden einige wichtige gesetzliche Regelungen umgesetzt beziehungsweise initiiert. Schauen wir uns das E-Rezept oder die E-Patientenakte an, dann sind dies gute und wichtige Entwicklungen. Auch die Nutzung von Abrechnungsdaten wird zukünftig erleichtert. Aber tatsächlich sind auch diese positiven Entwicklungen lediglich Stückwerk und können so den Patienten nicht den Nutzen bringen, der möglich wäre. Da steht einerseits die immer noch unbefriedigende Nutzerfreundlichkeit im Wege – denken Sie nur daran, wie leicht man heute mit seinen mobilen Endgeräten zum Beispiel Bezahlvorgänge abwickelt, aber wie umständlich hingegen die Einlösung eines E-Rezeptes oder die „Befüllung“ der E-Patientenakte ist. Wir wissen aus vielen Untersuchungen im Consumerbereich, dass derartige Barrieren die Nutzung negativ beeinflussen. Und dann steht der Fakt im Raum, dass eben nicht alle Möglichkeiten allen Patienten und Patientinnen zur Verfügung stehen, da zum Beispiel für gesetzliche und private Krankenkassen unterschiedliche gesetzliche Regelungen gelten. Weiterhin bestehen nach wie vor vielfältige Datensilos, die eine übergreifende Analyse für zum Beispiel eine bessere Information von Patient und Arzt, verhindern. Zusammengefasst wird das, was Digitalisierung grundsätzlich ermöglicht – Disruption (Informationsaustausch über Domänen hin weg), Amplifikation (Möglichkeit viele Nutzer parallel zu informieren) und Automatisation (Automatisierung sich wiederholender Tätigkeiten mit dem Ziel, mehr Zeit für die zwischenmenschlichen Interaktionen) – im deutschen Gesundheitswesen nicht ausreichend ermöglicht.

 

„Precision Public Health: Der Weg in die Zukunft“ heißt Ihr Eröffnungsvortrag beim 5. Digitalforum Gesundheit. Worum geht es?

Precision Public Health ist eine wichtige Grundlage für einen Wechsel im Gesundheitssystem. Unser Gesundheitssystem inzentiviert in erster Linie die Behandlung erkrankter Mitbürger und Mitbürgerinnen. So wird unser System häufig eher als ein Krankheitssystem denn ein Gesundheitssystem eingeschätzt. Tatsächlich ist das nicht nur ressourcenintensiv, sondern auch kritisch zu hinterfragen. Zwar ist die Behandlung von Krankheiten zwingend, aber sollten wir nicht mehr auf Prävention fokussieren, also die Verhinderung von Krankheiten beziehungsweise die Mitigation von Krankheitsfolgen. Dies ist unter anderem auch vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung sehr zielführend. Mit Precision Public Health ist gemeint, dass man gezielt unterschiedliche Bevölkerungsgruppen aufgrund ihrer Lebensumstände und Risikoprofile in den Blick nimmt. Präventive Interventionen können so spezifisch umgesetzt werden. Bei Precision Public Health spielt vor allem der Einsatz von Methoden der Künstlichen Intelligenz eine wichtige Rolle, da Daten aus unterschiedlichen Wissensdomänen integriert ausgewertet werden können und zum Beispiel mit großen Sprachmodellen leichter erfassbar ausgewertet und dargestellt werden können.

 

Im kommenden Jahr (2025) kommt das neue „Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit“. Was sind Ihre Erwartungen und Hoffnungen?

Das von Ihnen genannte Bundesinstitut wird in der Fachgemeinde als ein Rückschritt in Zeiten des Paternalismus und des mangelnden Verständnisses von Public Health gewertet. Es gibt eine Vielzahl von Fachgesellschaften und Public Health-Gruppierungen, die dies in öffentlichen Beiträgen sehr deutlich und mit überzeugenden Argumenten bemängelt haben. Eine wesentliche Kritik ist die Negierung einer der wichtigsten Lehren aus der COVID-19-Pandemie: Es ist fachlich widersinnig, Infektionskrankheiten und nicht-infektiöse Krankheiten getrennt zu betrachten. Eine der großen Herausforderungen der COVID-19-Pandemie war die präzise Zuordnung von Personengruppen zu bestimmten Krankheitsrisiken. Hintergrund ist die Tatsache, dass Personen mit bestimmten Grundkrankheiten eine höhere Wahrscheinlichkeit hatten, an der SARS-CoV2-Infektion schwer oder gar tödlich zu erkranken als andere. Das Outcome hatte also nicht nur mit dem Virus zu tun, sondern vor allem mit der Konstitution der jeweiligen Personen. Hätte man jene Daten, die zum Beispiel den Krankenkassen vorlagen, schneller ausgewertet und das Ergebnis gezielt einzelnen Personen mitgeteilt, dann wäre es für die Einzelnen leichter gewesen, ihr persönliches Krankheitsrisiko einzuschätzen – das ist Precision Public Health. Eben weil – neben dem Alter – vor allem chronische Grundkrankheiten den COVID-19-Krankheitsverlauf stark beeinflussen, ist eine Trennung von Infektionskrankheiten und nicht-infektiösen Erkrankungen widersinnig. Daher habe ich die Hoffnung, dass diese fachlich nicht nachvollziehbare Entscheidung der Trennung dieser Krankheitsentitäten in zwei Bundesinstitute doch nicht realisiert wird. Stattdessen sollte man die Ressourcen der beiden Institute BZgA und RKI sinnhaft zusammenlegen, um daraus ein innovatives und effektives Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit zu gestalten, also ein Nationales Public Health Institut für Deutschland (um im Internationalen Sprachgebrauch zu bleiben), das über die fachlichen und die kommunikativen Kompetenzen verfügt, auf nationaler Ebene zu agieren.

Digitalforum Gesundheit 2025
Veranstaltungen mit Prof. Dr. Dr. Lothar Wieler:

Donnerstag, 03.04.2025 09:45 - 10:15